
Martin Haidinger widmet sich seit vielen Jahren der Vermittlung von Geschichte und Geschichten, unter anderem in seinen Sendungen auf Radio Ö1. Nun legt er ein neues Buch vor, dessen Thematik aktueller nicht sein könnte! Und gleich zu Beginn sagt er darin: So wie gute Journalisten sollten auch Historiker nicht Ankläger, Anwälte oder Richter der Geschichte sein, sondern Aufklärer. Deshalb gilt es hier weder anzuklagen noch zu verteidigen oder zu richten, sondern zu (er)klären.
Herr Haidinger, Hitler-Bücher und Bücher, die sich mit dem Nationalsozialismus beschäftigen, gibt es viele. Was macht Ihr Buch in der heutigen Zeit trotzdem so wichtig?
Seien wir ehrlich: Hitler und die Nazis gehen vielen als Phänomene der Popkultur schon gehörig auf die Nerven. Die Flut an Unterhaltungsprodukten und Pseudo-Informationen zum Thema ist gewaltig. Umso wichtiger ist es, genau dieses überstrapazierte Thema auf einen sachlichen Punkt zu bringen. Dazu kommt noch, dass es praktisch fünf nach zwölf ist: Alle im Buch erscheinenden Zeitzeuginnen und -zeugen sind bereits verstorben; wir hören zum letzten Mal ihre authentischen(wenn auch subjektiven) Berichte und Einschätzungen.
Der Fokus im Buch liegt auf Österreich, das Thema betrifft aber aktuell wohl die ganze Welt, oder?
Karl Kraus hat Österreich einmal als „Versuchsstation für den Weltuntergang“ bezeichnet. Das kleine Land ist ein treffliches Laboratorium um verschiedene Phänomene zu beobachten, die aber universelle Gültigkeit haben. Heute, im 21. Jahrhundert haben wir brutale und banale Diktatoren, die wenig überraschend alles und jeden in Freund und Feind einteilen. Auch in freien Gesellschaften tauchen immer mehr politische Führer auf, die ihr Weltbild auf „them and us“ aufbauen: „Unsere Leute und die anderen!“. Die damit verbundenen Aktivitäten sind ein probates Mittel um die Anhänger und Untertanen in permanentem emotionalem Stress zu halten. Wer ständig mit horizontaler Abgrenzung beschäftigt ist, tritt nicht nach oben – so ist das Kalkül. Es ist ziemlich leicht zu durchschauen, aber da ist noch eine andere, viel gefinkeltere, kleinteiligere Tendenz in der westlich geprägten Welt, die dem humanistischen Menschenbild diametral entgegensteht: Nämlich die zusehende Einteilung der Menschen in Gruppen, eigentlich Klassen oder Kasten, die gegeneinander in Stellung gebracht werden. Aus denen gibt es kaum ein Entrinnen: Hautfarben, Herkünfte, Geschlechter, Generationen von Boomern über X,Y, Z, Alpha: Sie alle müssen vorgebliche Probleme miteinander haben, die angeblich dringend gelöst gehören. Es ist eine „Gesellschaft von Volatilen“, die ausschließlich aus Minderheiten zu bestehen hat, die voreinander geschützt werden müssen und nicht mehr übereinander und miteinander sprechen dürfen- zu groß ist die Gefahr der wechselseitigen „Aneignung“. Das fragmentiert die Gesellschaft oder einfacher gesagt: Es zerstört sie. Und dann kommen die Populisten und bieten die einfachste Lösung an: einen Messias der groß und strahlend oder auch klein und mickrig sein kann – einerlei, Hauptsache: „Sie sind gegen IHN, weil ER für Euch ist“ . ER und WIR wird zum Gegenmodell zur fahrlässig fragmentierten Gesellschaft. Beide haben mit Humanismus oder liberaler Demokratie wenig zu tun.
Welche Parallelen sehen Sie zur heutigen Welt?
In den 30er Jahren war die materielle Not in Europa viel größer als heute, doch damals wie heute spielen emotionale Nöte eine große Rolle: Identifikationsfragen (manche nennen es auch „Identität“).
Welche Rolle spielen Medien damals und heute?
Die Zeitungen waren eindeutiger den verschiedenen Parteien und Bewegungen zuzuordnen als heute (bis sie vom NS-Staat „gleichgeschaltet“ wurden), die Boulevardmedien waren auch in den 30er Jahren vor allem am kommerziellen Erfolg orientiert und das Radio wurde ab 1933/38 zum perfekten Mittel der Einwegkommunikation des Regimes. Die Message Control war total und mehr als 90 Prozent der Menschen bezogen ihre Informationen aus diesen offiziellen Quellen. Damals vertrauten (zu) viele Leute den Medien, heute (zu) wenige.
Welche Lehren können und sollten wir aus dieser Zeit ziehen?
Uns bewusst zu werden, dass nicht jeder, der vielleicht einen richtigen Befund eines Problems trifft, dann notwendigerweise auch das richtige Rezept dafür hat. Und schon gar nicht gewaltsame Mittel. „Volkes Wille“ und das „gesunde Volksempfinden“ sind meistens Lügengebilde.
Wie können wir verhindern, dass sich solche Entwicklungen wiederholen?
Den Menschen als Einzelnen als Individuum und in seiner Würde achten und seine Bedürfnisse rechtzeitig ernst nehmen. Das Ohr am Volk haben, ohne dann symbolische Dummheiten oder gefährlichen Schwachsinn als Lösungen anzubieten. Dann braucht es keinen irdischen „Erlöser“ mehr.
Was möchten Sie dem Lesepublikum mitgeben?
Ein Wort von Goethe aus seinen „Maximen und Reflexionen“: „Der Alte verliert eines der größten Menschenrechte: er wird nicht mehr von Seinesgleichen beurteilt.“ Seien wir den Menschen der damaligen Zeit gegenüber so kritisch aber auch so fair, wie wir es uns für uns selbst erwarten!
Wir danken für das Gespräch!