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Zum Erscheinen ihres neuen Buches: Birgit Kofler im Gespräch über die dramatische und faszinierende Geschichte der Geheimoperation Nemesis

Zwischen 1915 und 1918 wurden etwa eineinhalb Millionen armenischer Kinder, Frauen und Männer ermordet, insgesamt starben bis 1923 an die zwei Millionen Armenierinnen und Armenier im Zuge von Massakern und Massengewalt. Birgit Kofler-Bettschart erzählt die dramatische und faszinierende Geschichte der Geheimoperation Nemesis (Vergeltung) und ihrer Akteure vor internationaler Kulisse und einem historischen und politischen Hintergrund, der bis heute nachwirkt.

Ist der Genozid am armenischen Volk ab 1915 ein vergessener oder verdrängter Völkermord?

Dieses Verbrechen gegen die Menschlichkeit, das im Windschatten des ersten Weltkriegs an den Armeniern und anderen Minderheiten des Osmanischen Reiches begangen wurde, ist tatsächlich vielen Menschen nicht so präsent. Das hat wohl auch mit der Haltung der Täter-Nationen, also der heutigen Türkei und dem heutigen Aserbaidschan, zu tun. In Österreich und Deutschland hat es – wenn auch nicht unbedingt freiwillig – eine Auseinandersetzung mit der eigenen Schuld an der Schoah, im Rahmen derer mehr als sechs Millionen Menschen ermordet wurden. Bei uns gibt es Gedenkstätten und Monumente für die Opfer der grauenvollen Vernichtungsmaschine der Nationalsozialisten. In der Türkei und in Aserbeidschan gibt es Monumente für die Haupttäter des Völkermords. In Österreich und Deutschland ist, wie in vielen anderen Staaten, die Leugnung des Holocaust unter Strafe, in der Türkei und Aserbeidschan ist die Leugnung des Genozids Staatsdoktrin.

Kann man die juristische Aufarbeitung vergleichen?

In den 13 Nürnberger Prozessen gab es immerhin an die 200 Urteile gegen führende NS-Verantwortliche, die zumindest zum Großteil auch vollstreckt wurden. Ein internationales Tribunal gab es nach dem Armenozid nicht. Wohl haben osmanische Kriegsgerichte Prozesse gegen die Haupttäter geführt, aber in deren Abwesenheit: Das „Triumvirat der Paschas“ Talat, Enver, Cemal und viele andere hatten sich längst ins Ausland abgesetzt und blieben ungestraft.

Sie erzählen in Ihrem Buch weniger die detaillierte Geschichte des Genozids an den osmanischen Armeniern als die Entwicklungen danach, die Bemühungen der Armenier um einen eigenen Staat und die Rache an den Tätern des Genozids. Warum dieser Schwerpunkt?

Die vielen Belege und Quellen, die den Genozid beweisen und systematisch dokumentieren, sind schon viele Male durch großartige Autorinnen und Autoren aufbereitet worden. Das muss ich nicht wiederholen. Mich hat einerseits die Frage interessiert, wo die heutigen Konflikte im Kaukasus ihre historischen Wurzeln haben, wie die Friedensordnung nach dem 1. Weltkrieg und wie die hartnäckige Leugnung des Genozids durch die offizielle Geschichtsschreibung der Täternationen dazu beigetragen haben. Andererseits haben mich auch besonders die Personen hinter jener armenischen Geheimorganisation interessiert, die nach dem Genozid die Opferrolle überwinden und die ungestraft gebliebenen Haupttäter des Genozids in ganz Europa und dem Kaukasus aufspüren und töten wollten. Ich wollte verstehen, wie sie zu Attentätern wurden und was nach ihrer Teilnahme an der Operation Nemesis aus ihnen wurde. Und schließlich ist natürlich auch die ethische Diskussion hinter dieser Aktion bis heute interessant und relevant – wenn man an die vielen weiteren Genozide des 20. und 21. Jahrhunderts denkt: Was, wenn ein politisch oder ethnisch motivierte Massenmord ungestraft bleibt? Das zeigt, wie wichtig es ist, auch auf internationaler Ebene rechtsstaatliche Verfahren für solche Verbrechen zu haben. Keine Gruppe darf mit der Erfahrung der systematischen Vernichtung allein gelassen werden, geopolitische oder ökonomische Interessen dürfen nicht mehr Gewicht haben als Recht und Gerechtigkeit.

Sie haben die Personen hinter der Operation Nemesis angesprochen und ihre Lebenswege. Was haben Sie herausgefunden?

Ein interessanter Aspekt ist: Von allen Attentätern wurden nur zwei gefasst und vor Gericht gestellt, Soghomon Tehlirjan in Berlin und Missak Torlakjan in Konstantinopel, vor ein britisches Militärgericht. Beide wurden freigesprochen. Was die Nemesis-Mitglieder betrifft, die später nach Westeuropa, Nord- oder Südamerika gegangen sind, so weiß man recht viel über sie. In den armenischen Gemeinden der Diaspora wurden sie als Helden gefeiert, einige von ihnen haben ausführliche Autobiographien hinterlassen. Viel tiefer graben musste ich bei den Nemesis-Rächern, die sich nach den Anschlägen in Sowjet-Armenien niedergelassen haben, das ein Teil der neuen UdSSR wurde. Sie haben kaum Biografisches hinterlassen, nicht einmal in den Familien konnte über ihre Teilnahme an der Geheimoperation offen gesprochen werden, und erst recht nicht in der Öffentlichkeit. In der stalinistischen Ära reicht es oft schon aus, Genozid-Überlebender zu sein oder aus einer westarmenischen Familie zu stammen, um unter dem Generalverdacht der „Illoyalität“ gegenüber der Sowjetunion oder unter Spionageverdacht zu stehen. In den späten 1940er Jahren wurden Armenier massenhaft aus dem Südkaukasus deportiert, vor allem Genozid-Überlebende aus dem Osmanischen Reich. Soweit ich nachvollziehen konnte, wurden mit ganz wenigen Ausnahmen die Nemesis-Mitglieder und -Unterstützer, die sich in Sowjet-Armenien niedergelassen haben, in den 1930er und 1940er Jahren Opfer des stalinistischen Terrors.

Die Attentate fanden in Berlin und Rom, Tiflis und Istanbul statt. Sie erwähnen aber auch Wien als wichtigen Ort der Operation Nemesis, warum?

Grundsätzlich einmal dürfen wir nicht vergessen, dass das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg mit Österreich-Ungern verbündet war. Die k. und k. Militärs und Diplomaten wussten sehr genau über den Massenmord an den anatolischen Armeniern Bescheid, und in österreichischen Archiven gibt es zahllose Dokumente über den Genozid. Was konkret die Operation Nemesis betrifft, so war Wien wohl eine Art Rückzugsort, wo man sich traf, sammelte, und auf weitere Attentate vorbereitete. In Wien konnten die Nemesis-Rächer in der wachsenden armenischen Gemeinde auf ein Netzwerk von armenischen Studenten, Künstlern und Intellektuellen zählen, die mit ihren Anliegen sympathisierten. Man kam zum Beispiel im Café Bellaria zusammen, das schon damals am heutigen Standort in der Bellariastraße existiert. Ein armenisches Buch über des Gerichtsverfahren gegen Soghomon Tehlirjan, den Attentäter von Talat Pascha, wurde 1921 in Wien gedruckt, im Mechitharistenkloster, das es heute noch im 7. Bezirk gibt. Generell spielt Wien in der Geschichte der Armenischen Revolutionären Föderation, die hinter Nemesis stand, eine wichtige Rolle.

Gibt es Parallelen der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und der heutigen Situation in und um Armenien?

Ich habe  in vielen Gesprächen gehört, dass die Menschen in Armenien und in der armenischen Diaspora sich heute wieder von der internationalen Gemeinschaft im Stich gelassen fühlen. Die monatelange Blockade der einzigen Landverbindung zwischen der Republik Armenien und der bis vor Kurzem noch mehrheitlich von Armeniern bewohnten Region Berg-Karabach hatte für Aserbaidschan keine Konsequenzen, auch die militärischen Einnahme der Region durch Aserbaidschan im September 2023 und die Vertreibung der großen Mehrheit der 120.000 Karabach-Armenier zog keine internationalen Sanktionen nach sich. Unter vielen Armenierinnen und Armeniern geht die Sorge um, angesichts der ausbleibenden Reaktionen und im Windschatten anderer Krisen könnte Aserbaidschan letztlich auch die Republik Armenien angreifen. Aus der Geschichte sollten wir immer lernen, und je mehr historische Tatsachen verleugnet werden, desto riskanter ist, dass sich Ereignisse wiederholen.

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